
Vor fast genau einem Jahr, am Abend des 1. Februar 2023, sicherte sich der chinesische Schiedrichter Ma Ning seinen Platz in der Fußballgeschichte. Beim Eröffnungsspiel der FIFA-Klub-WM verkündete der 43-Jährige über die Stadionlautsprecher seine Entscheidung, nach Prüfung der Videobilder keinen Elfmeter für Al-Ahly Kairo gegen Auckland City zu geben, da das entsprechende Foul außerhalb des Strafraums stattgefunden habe.
Die sportliche Relevanz von Nings Entscheidung hielt sich in Grenzen, das Team aus Ägypten hatte zuvor bereits mit 3:0 geführt, der anschließende Freistoß änderte nichts mehr am Endergebnis. Allerdings waren die zehn Sekunden, in denen der Unparteiische für Stadion- und Fernsehpublikum zu hören war, die erste Anwendung einer kurz zuvor von der obersten Regelbehörde der FIFA beschlossenen Regeländerung.
Das International Football Association Board (IFAB) hatte wenige Wochen vor der Klub-WM beschlossen, eine einjährige Testphase für die Erläuterung von VAR-Entscheidungen über die Stadionmikrofone einzuführen. Im Folgenden kam das neue Kommunikationssystem auch bei der U20-WM der Männer und bei der Frauen-WM zum Einsatz.
Öffentliche Imagepflege durch den Schiri-Boss
In der englischen Premier League steht jetzt offenbar die erstmalige Einführung im Vereinsfußball bevor. Wie mehrere britische Medien berichten, hat das IFAB grünes Licht für die Einführung im Klubfußball gegeben, die offizielle Bekanntgabe durch die Liga-Offiziellen soll diesen Sommer erfolgen.
Als treibende Kraft hinter dem Schritt, von dem sich die Verantwortlichen mehr Transparenz und bessere Kommunikation versprechen, gilt der ehemalige Weltklasse-Schiedsrichter Howard Webb. Der 52-Jährige ist seit August 2022 Chef der englischen Referee-Vereinigung PGMOL (Professional Game Match Officials Limited). Nebenbei tritt Webb einmal pro Monat in der von den Sendern „Sky Sports“ und „TNT Sports“ ausgestrahlten TV-Sendung „Match Officials Mic’d Up“ auf. Zusammen mit Ex-Nationalspieler Michael Owen, dem Moderator der Show, erläutert er strittige Szenen des vorangegangenen Spieltags. Das Besondere: die Zuschauenden bekommen auch die originalen Audio-Mitschnitte der Gespräche zwischen den jeweiligen Schiedsrichter-Teams und den Verantwortlichen im VAR-Studio vorgespielt.
Das seit September vergangenen Jahres laufende Format ist wie die geplante Einführung der Mikrofon-Erklärungen ein Versuch, die Akzeptanz des stark in der Kritik stehenden Video-Schiedsrichters bei Fans und Klub-Verantwortlichen zu erhöhen.
Neue Technik bedeutet auch neue Probleme
Gleich mehrere Szenen führten in den letzten Monaten zu öffentlichen Forderungen, das gesamte englische Schiedsrichterwesen auf den Prüfstand zu stellen. Im Oktober war ein Tor des Liverpooler Stürmers Luis Diaz im Spiel gegen Tottenham, wegen vermeintlicher Abseitsstellung nicht gegeben worden. Die kurz danach veröffentlichten Tonaufnahmen des Austauschs zwischen Schiedsrichter Simon Hooper und dem VAR-Team offenbarten massive, kommunikative Versäumnisse. Die dem Videoteam bereitgestellte Technologie erkannte zwar, dass Diaz nicht im Abseits gestanden hatte, trotzdem lief die Partie weiter, als Hooper den Fehler bemerkte, war es bereit zu spät.
Genau solche Fehlentscheidungen sollten durch die Einführung des Videoassistenten, die in der Premier League zur Saison 2019/20 erfolgte, eigentlich der Vergangenheit angehören. Genau wie in Deutschland haben die Diskussionen über Schiedsrichterentscheidungen im Mutterland des Fußballs seitdem aber nicht ab- sondern zugenommen. Waren Fehlentscheidungen früher auf rein menschliches Versagen zurückzuführen und damit zwar ärgerlich, aber doch nachvollziehbar, hat der technologische Fortschritt zur Folge, die Schiedsrichter auf dem Platz eines guten Stücks ihrer Autorität zu berauben.
Die wahren Probleme der Schiedsrichter liegen tiefer
Liverpool-Coach Jürgen Klopp forderte nach dem Desaster gegen Tottenham ein Wiederholungsspiel, Mikel Arteta bezeichnete die Schiedsrichter-Leistung nach Arsenals 0:1‑Niederlage gegen Newcastle im November als „absolute Schande“. Im Spiel wurde unter anderem eine klare Tätlichkeit von Newcastles Bruno Guimaraes an Arsenals Jorginho nicht geahndet, das Siegtor für die Magpies fiel nach einem offensichtlichen Offensivfoul von Joelinton, auch hier griff der Videoassistent nicht korrigierend ein.
Wenn ab der kommenden Saison die Schiedsrichter ihre Entscheidungen für alle hörbar kommunizieren werden, dürfte das an der hohen Fehlerquote nichts ändern. Auch fünf Jahre nach der VAR-Einführung hat sich das Zusammenspiel zwischen Video- und Hauptschiedsrichtern keineswegs eingependelt, wie der Zwischenfall aus dem Tottenham-Spiel fast schon slapstickartig aufgezeigt hat. Die transparentere Kommunikation könnte maximal symbolischen Charakter haben, indem sie den Fans im Stadion einiges von der bis jetzt vorherrschenden Verwirrung nimmt, die sich bei den gefühlt ewig dauernden Entscheidungen oft einstellt. Um eine wirkliche Verbesserung der Situation zu erreichen, müsste das jetzige System wohl grundsätzlich überdacht werden. Insbesondere dahingehend welche Spielsituationen überhaupt vom VAR überprüft werden sollen und wann es vielleicht besser wäre, dem Gespann vor Ort das Feld wieder komplett zu überlassen.
Auch Howard Webb, der so oft betont, wie viel ihm an Transparenz gelegen ist, würde es sicher freuen nicht mehr jeden Monat dem Publikum von „Mic’d up“ zerknirscht die Fehler seiner Kollegen erklären zu müssen.
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